Retrospektive 2024
Körper im Film
Menschen, die die Fabrik verlassen, ein mit dem Schlauch kämpfender Gärtner oder Zirkusartisten, die Kunststücke aufführen: Bereits in den frühesten Werken der Filmgeschichte rücken menschliche Körper ins Zentrum. An ihnen orientieren sich unsere Blicke, gebannt verfolgen wir ihre Bewegungen, fiebern oder leiden mit ihnen. Denn gerade durch die Präsentation von Körpern entwickelt das Kino seine einzigartige verführerische Kraft, seine Fähigkeit, uns als Zuschauer*innen in dieses wunderbare Medium eintauchen zu lassen, uns zu überreden, zu bewegen und womöglich die Welt mit anderen Augen sehen zu lassen. Dabei kann das Kino in seinen Choreografien des Körpers auf jahrhundertealte Traditionen aus Tanz, Akrobatik und Kampfkunst zurückgreifen, die in den Filmen unserer diesjährigen Retrospektive allesamt auch eine Rolle spielen. In ›The Red Shoes‹ (1948) oder ›The Raid‹ (2011) sogar ganz explizit.
Vor dem trainierten Körper steht aber zunächst der Körper als etwas Gegebenes. Inklusive Attributen von Geschlecht, Race oder Behinderung mit ihren jeweiligen gesellschaftlichen Zuschreibungen. Im Kino wird er auch als Medium von sexuellen oder Schmerzempfindungen zum Thema. Und wie die Filmtheorie im Prinzip des hors cadre über die Erweiterung der filmischen Dimension über den gefilmten Raum und die Leinwand hinaus nachgedacht hat,
hat das Kino immer wieder auch über die mögliche Erweiterbarkeit und Veränderbarkeit von Körpern nachgedacht, beispielsweise beim Body Horror oder in der Science-Fiction.
Die Retrospektive zeigt zwölf Filme, in denen der menschliche Körper stets eine besondere Rolle spielt, und fragt, wie sich dessen Darstellung seit den Anfängen des Kinos verändert hat. Für eine möglichst facettenreiche Auswahl haben wir neben den erwähnten inhaltlichen Aspekten auch die unterschiedlichen relevanten Genres berücksichtigt.
Den historischen Anfangspunkt bildet ›Steamboat Bill, jr.‹ (1928) von und mit Buster Keaton. Am Ende bewegt sich der berühmte Hollywoodpionier darin gekonnt durch einen Sturm, und sogar als eine Hausfassade auf ihn stürzt, überlebt er. Es ist eine spektakuläre Episode, eine Art Special-Effects-Ballett, in dessen Mittelpunkt sich Keatons Körper befindet. Gut 60 Jahre später verblüffte James Cameron seine Zuschauer*innen in ›Terminator 2‹ (1991) mit einer anderen, nicht weniger eindrücklichen Form des Balletts: Der neuartige digitale Effekt des Morphings ließ den Körper des gefährlichen Terminators zu einem fließend veränderbaren Objekt werden.
Körper sind im Film jedoch nicht nur Katalysatoren der Handlung. Sie sind stets auch mit Formen von Identität und positiven oder negativen Bewertungen verbunden. Nicht zuletzt durch Sex ermöglichen Körper Nähe und Zusammengehörigkeit (›In the Cut‹, 2001). Aber sie werden eben auch zum Grund von Trennung und Ausgrenzung wie Ousmane Sembènes ›Black Girl‹ (1966), Cheryl Dunyes ›The Watermelon Woman‹ (1996) oder Catherine Breillats ›Meine Schwester‹ (2001) unmissverständlich zeigen. Und gerade die Möglichkeit der Nähe trägt die Kehrseite der Verletzbarkeit des Körpers in sich (›Audition‹, 1996).
Eine Verführung stellt immer eine Aufforderung dar, sich auf etwas Neues einzulassen. Damit dies dem Kino gelingt, lässt es uns auf menschliche Körper schauen.
Die Filme der Retrospektive 2024 im Überblick:
›Steamboat Bill, Jr.‹ Charles Reisner, Buster Keaton, USA, 1928
›Freaks‹ Tod Browning, USA, 1932
›Die roten Schuhe‹ Michael Powell, Emeric Pressburger, UK, 1948
›The House is Black‹ Forough Farrokhzad, Iran, 1962
›Black Girl‹ Ousmane Sembène, Senegal, Frankreich, 1966
›Videodrome‹ David Cronenberg, Kanada, 1983
›Terminator 2: Tag der Abrechnung‹ James Cameron, USA, 1991
›The Watermelon Woman‹ Cheryl Dunye, USA, 1996
›Audition‹ Takashi Miike, Japan, Südkorea, 1999
›Meine Schwester‹ Catherine Breillat, Frankreich, 2001
›In the Cut‹ Jane Campion, UK, Australien, Frankreich, 2003
›Hunger‹ Steve McQueen, UK, Irland, 2008
›The Raid‹ Gareth Evans, Indonesien, Frankreich, 2011